Erdbeben

Diesen Text zu schreiben, fiel mir sehr schwer. Es hat mehrere Monate gedauert, und ist trotzdem kein geschliffener journalistischer Text  – das versucht es auch gar nicht zu sein. Es ist ein sehr persönlicher Erlebnisbericht. Ich kann nur das beschreiben, was ich erlebt und gehört habe. Es fällt mir immer noch sehr schwer, Fotos und Berichte dazu zu sehen. Ich hoffe, Mexiko Stadt erholt sich gut.

Drei Tage nach Beginn meiner Reise war das große Erdbeben in Mexiko Stadt. Das hat mich aus dem Gleichgewicht geworfen und natürlich hat es einen großen Einfluss auf meine Reisepläne genommen. Ich wusste erst einmal nicht, ob ich überhaupt wie geplant weiterreisen sollte. Die Stimmung in Mexiko Stadt war wochenlang gedämpft – in dieser wunderbaren, lebendigen chaotischen Stadt, in der das Leben immer weitergeht. Auf jeden Fall wollte ich helfen.

19.09.2017, 13.15h, Mexiko Stadt:
Nie in meinem Leben hatte ich so viel Angst – und gleichzeitig dachte ich „Nein, so etwas passiert nicht in Wirklichkeit, das kann nicht echt sein.“ Ich kann mich gar nicht an den Anfang erinnern, erst wieder an den Moment, als ich die Rufe der anderen wiederholte: „Stellt euch unter die Stahlträger, an die Wand gepresst!“. Der Boden schwankte von links nach rechts, mir war schwindelig. Einige der Jungs kamen erst später in den Flur. „Alle haben sich aneinander festgehalten, es war echt gruselig.“ (Tagebucheintrag vom 20.09.). Es gab draußen laute Geräusche, es krachte. Es dauerte viel zu lange. All das ist wahr, es beschreibt das, was passiert ist – aber es wird meiner erlebten Wirklichkeit so gar nicht gerecht. Worte sind viel zu platt, um die Gefühle und Eindrücke zu beschreiben. Ich kann nur sagen, dass es schrecklich war, aber sich gleichzeitig so anfühlte, als würde es jemand anderem passieren.
Die Sirenen klangen erst, als es schon längst angefangen hatte.
Es war so surreal, dass das Erdbeben genau zwei Stunden nach dem Probealarm war – an genau demselben Datum wie das große Beben in Mexiko Stadt 1985. Nach dem Probealarm fragte einer der Jungs von Pro Ninos : und was, wenn es wirklich ein Erdbeben gibt? Natürlich dachte keiner, dass seine Worte prophetisch werden könnten. Der Junge war danach verständlicherweise sehr verstört.
Ich war so froh, nicht alleine zu sein. Ich war bei meiner alten Arbeitsstelle Fundacion Pro Ninos, einem Tageszentrum für Straßenkinder (Chavos), um mich herum bekannte Gesichter.
Danach, als das Beben aufhörte, gingen wir auf die Straße hinaus. Wir gingen um die Ecke zum Haupteingang. Ein Chavo fehlte, alle fragten: „Wo ist Luis?“. Oder war das bei der Generalprobe, 2 Stunden vorher? Ich kann es gar nicht mehr genau sagen. Ich war verwirrt, als es hieß, wir gehen auf den Sportplatz, nicht wie offiziell angeordnet – und vor zwei Stunden geübt – auf die große Kreuzung. Es krachte zwei mal laut. Aber ich war froh, dass jemensch Anweisungen gab, und hab diese einfach für die Chavos wiederholt. Wir gingen also wieder in das Gebäude herein und schnell durch zum Innenhof. Dort hieß es dann: warten. Falls ein Nachbeben kommt. Ab und zu krachte es irgendwo auf dem Dach eines Nachbarhauses. Ich habe erstmal Nina fest umarmt und Susanna und Denise. Mein ganzer Körper zitterte. Alle paar Minuten war ich fest überzeugt, dass es wieder bebte. Aber es war nur mein Körper. Das mussten mir Isabela und Nina aber immer wieder sagen, denn ich bin mehrmals plötzlich in Panik ausgebrochen, obwohl sich nichts bewegte. Und die ganze Zeit war ich total zittrig und angespannt, mein Körper bebte weiter, obwohl die Erde aufgehört hatte. Ca. anderthalb Stunden saßen wir draußen und warteten nur, Leute haben ihre Familie kontaktiert. Nina hatte zum Glück Neuigkeiten von Irma. Susanne konnte ihren Mann nicht erreichen. Mein Handy mit den wichtigen Nummern war in meiner Tasche im Büro- ich kam also erstmal nicht daran. Denises Kinder kamen irgendwann an. Dann sind zwei der Erzieher in das Haus rein gegangen und haben das Gebäude auf Spuren untersucht. Es gab Wassermelone, natürlich mit Chili.
Irgendwann durften wir dann auch rein. Wir haben mit den Chavos Origami gemacht. Die Konzentration hat geholfen, abgelenkt. Irgendwann bin ich auf den Boxsack losgegangen, das hat gegen das Kribbeln des Adrenalins in meinen Venen, gegen die Ruhelosigkeit, geholfen. Das Radio war auf laut gestellt. Erik und Tono haben über ein eingestürztes Haus geredet. Jemand wusste aus dem Internet das Epizentrum (in Axochiapan, Morelos, 120km von Mexiko Stadt entfernt) und die Stärke (7,1 auf der Richterskala). Das eingestürzte Haus erschien mir schon total krass. Ich weiß, es klingt absurd, nachdem ich von Todesangst geredet habe, aber nachdem es vorüber war hab ich mir zwar Sorgen gemacht, aber ich hätte mir das Ausmaß der Zerstörung nie ausgemalt.

Der Heimweg war chaotisch. Der Metrobus fuhr teilweise, die Metro war angeblich ganz ausgefallen. Wir wussten jedoch nicht genau Bescheid, bis wohin der Metrobus fährt, weshalb wir dann noch einmal umsteigen mussten. Ungefähr eine Stunde Fahrt auf einer Strecke, die sonst vielleicht 15 Minuten dauert. Und das Ganze hoffnungslos eingequetscht – natürlich, alle wollten möglichst schnell nach Hause. Wir haben versucht, durch das Fenster Schäden zu erkennen, es war teilweise abgefallener Putz zu sehen. Viele Leute waren zu Fuß und mit Autos unterwegs.
Dann mussten wir aus dem Metrobus aussteigen, um weiterzulaufen. Ich brauchte erstmal was zu essen, bei dem ganzen Chaos hatte ich dafür noch keine Zeit gefunden. Wir sind dann nach google maps weitergelaufen, eine ganze Weile nach Westen und ein gutes Stück nach Süden. Viele Straßen waren für Autos gesperrt, wir sind immer wieder auf Metrobus- Spuren gelaufen, mussten nur ab und zu Krankenwagen oder Motorradfahrern ausweichen. Auf dem Weg sahen wir immer wieder kaputte Fensterscheiben und abgesperrte Straßenstücke. Auf dem Mittelstreifen einer großen Straße waren Bettlaken zu improvisierten Zelten aufgespannt. Vermutlich war das eins der ersten Centros de Acopio, der Sammelstellen für Material und Hilfe, die überall in Selbstverwaltung aus dem Boden schossen. Dann haben wir eine kleine Menschenmenge in einer Seitengasse gesehen: Das Dach eines Hauses war eingestürzt und Geröll war auf das Dach eines Porsche gefallen. „Das war so unrealistisch.“ (Tagebucheintrag vom 20.09.). Ich war total schockiert und wollte gleichzeitig sofort weiter, ich wollte nicht Teil einer Menge Schaulustiger sein.
„Jonathan hat [auf dem Weg] die ganze Zeit [über] irgendetwas belangloses geredet und wirkte gut gelaunt. Ich war wie betäubt. Ich hab normal mit ihm geredet, konnte es aber nicht über mich bringen, ihm zu sagen, dass er aufhören soll.“ (Tagebucheintrag vom 20.09.).
Nach zwei Stunden zu Fuß war ich endlich zu Hause. An der Straßenecke rief jemensch plötzlich meinen Namen: Marie, die Mitbewohnerin meiner Freundin. Sie kam zu mir, total fertig und ich nahm sie erstmal in den Arm. Das erste, was sie zu mir sagte: „Ich hab nichts mehr.“ Unter Tränen und mit vielen Unterbrechungen erzählte sie mir, dass sie geradeso aus einem einstürzenden Hochhaus entkommen ist.
Das sechsstöckige Haus sei „viel zu schnell eingestürzt.“ Ihre Kollegin saß 3 Meter weiter im Raum drin und kam nicht mehr heraus. Während Marie herunterlief, war die Treppe vom Rest des Gebäudes abgebrochen. Die Hälfte der Kollegen waren noch im Haus, sie hatte stundenlang dort gewartet, um Neuigkeiten von den Bergungsteams abzuwarten. Das Militär stünde nur daneben und tue nichts. Ihre Chefin hatte es geschafft, drei Stockwerke tief zu springen und das Baby in ihrem Arm hatte es ohne einen Kratzer überlebt, während sie selbst mit gebrochenen Knochen davonkam. Die Erzählung nahm mich sehr mit und ich erlebte noch einmal einen Angstschub, diesmal stärker und kürzer, weil mir bewusst wurde, wie gefährlich es wirklich gewesen war, wie knapp ich dem Unglück entkommen war.
Mit Marie im Arm ging ich nach Hause – sie wiederholte immer wieder, dass ihr Schlüssel und ihre Kreditkarte, ihr Geld und Pakete für sie – dass das alles im Haus in Alvaro Obregon geblieben war. Alvaro Obregon – das wurde in den nächsten Tagen für mich zu einem festen Begriff. Das Bürogebäude, in dem Marie arbeitete – das Haus, das sofort einstürzte – stand direkt an dieser Straße und auch in den Nachbarstraßen sind immer wieder Gebäude eingestürzt oder einsturzgefährdet gewesen. In Alvaro Obregon gab es in den nächsten Tagen mehrere Centros de Acopio – Sammel- und Verteilungsstellen für Spenden.
Endlich in der WG angekommen, umarmten wir uns erstmal alle. Alle erzählten, wie es ihnen ergangen war. Ana und Julia waren erstaunlich ruhig. Ana war alleine zuhause gewesen. Julia war auf der Arbeit und ist danach stundenlang durchs Zentrum gelaufen, auf der Suche nach Marie und um Informationen zu sammeln.  Ich musste erstmal an meine Familie und Freunde schreiben, ich war so erleichtert, dass es in Deutschland gerade Abend war – so konnte ich hoffentlich allen Bescheid sagen, dass es mir gut geht, bevor sie die Nachrichten sahen oder hörten.
Später an diesem Abend kamen Freunde von Julia, wir gingen gemeinsam los: im Gepäck Elektrolyte, alle möglichen Medikamente, die wir noch hatten, Schokolade, Limonade, Panzertape … alles, was auch nur irgendwie helfen könnte.
In dieser Nacht liefen wir stundenlang durch die zerstörte Stadt, versuchten, möglichst schnell an Orte zu gelangen, an denen Hilfe beim Räumen der Trümmer und bei der Rettung der Personen gebraucht wurde. Wir kamen nie rechtzeitig an – und auch wenn das das Gefühl der eigenen Ohnmacht verstärkt, freute es mich. Denn es hieß, dass andere Leute schneller dort waren, dass die Hilfe schnell ankam und es zeigte die große Hilfsbereitschaft, die die Stadt in diesen Tagen prägte. Dennoch habe ich diese Nacht negativ in Erinnerung. Rennen von einem Ort zum nächsten, immer nur Gerüchten folgend, ständig auf der Hut vor möglichen Einstürzen und mit Angst vor einem Nachbeben – dazu noch die Übermüdung und Reste der Panik des Tages.
Nach ein paar Stunden Schlaf – niemensch konnte sich so richtig ausruhen, und einige von uns hatten Albträume – ging das Ganze weiter.
Es gab Gerüchte, dass die Regierung Rettungsaktionen von angeblich verschütteten Schülern verweigerte und mit Maschinen an die Gebäude ging – insbesondere in Bezug auf eine Schule, das Colegio Rebsamen (El Universal. 20 de septiembre de 2017. Consultado el 21 de septiembre de 2017). In mehreren Fällen stand Aussage gegen Aussage, ob noch Leute in den Trümmern waren.
Julia musste arbeiten, aber Marie, Ana und ich zogen los. Wir kauften in einer Apotheke Verbandsmaterial und los ging‘s.
An einem – inzwischen eingerichteten – Sammelplatz in Alvaro Obregon gaben wir unser Material ab, dazu noch ein paar Sachen, die uns unterwegs in die Hand gedrückt wurden. Immer wieder sahen wir Leute die linke Hand heben: „Leise, wir wollen hören, ob da noch jemand drin ist!“.
Am Sammelplatz der Ruf: „Freiwillige zum Trümmern räumen, wer kann? Wer hat ein Auto?“. Ich guckte Ana fragend an. Sie meinte, geh ruhig, wenn du willst, du hast ja meine Nummer. Also los mit drei wildfremden Leuten, die sich alle gegenseitig kennen. Nach stundenlangem Suchen fanden wir endlich das Auto mit den anderen – die ganze Innenstadt war für Autos noch gesperrt. Dementsprechend lange dauerte auch der Weg zum eingestürzten Haus. Es lag in der Colonia Narvarte, ganz in der Nähe meiner ehemaligen WG.
Als wir uns näherten, hatte jemensch Neuigkeiten von twitter, von einem anderen eingestürzten Haus. Jetzt hieß es schnell entscheiden. Vor allem, da wir zu diesem Haus hier viel zu lang gebraucht hatten. Am Ende gingen wir zu dem neuen Haus, das dann aber doch nicht eingestürzt war. Wir versuchten dann, Leute auf dem Weg dorthin zu entwarnen, erfolglos. Also auf zu einer neuen Nachricht … und so weiter. In diesen Tagen gab es leider viele Falschnachrichten – nicht aus bösem Willen, sondern aus Panik. Andererseits gab es auch Leute, die sich weigerten, definitiv einsturzgefährdete Häuser zu verlassen – aus Angst, jemand würde ihre Sachen klauen, sobald sie nicht mehr dort wären. Wie in der vorigen Nacht waren wir nie rechtzeitig da. Deshalb klinkte ich mich aus, als wir das nächste mal an einer Sammelstelle vorbeikamen und sortierte dort lieber Verbandszeug. Als dort Flaute herrschte, half ich, Kisten für einen Transport nach Morelos zu tragen – dort kam angeblich fast keine Hilfe an. Müde ging ich Richtung WG. Die Atmosphäre auf den Straßen der Stadt war ernst, aber alle kümmerten sich umeinander: Überall wurden Wasser und Essen verschenkt. „Tortas, Tortas“, „No quiere un taco, guera?“, „Agua“ oder es wurde einem einfach in die Hand gedrückt. Auf dem Heimweg machte ich noch mehrmals an Sammelstellen halt, sortierte hier Medikamente, folge dort einem Aufruf, an anderer Stelle Lunchpakete zu verpacken. Es war eine hohe Militärpräsenz zu bemerken, doch die Soldaten – wie es ein Mexikaner so schön bemerkte – standen einfach nur rum und halfen nicht sichtlich. Besser gesagt, sie wirkten recht verloren, wie sie erst die eine Straße räumten und dann doch wieder woanders hinfuhren.

Letzten Endes kam ich zuhause an, wo langsam alle wieder eingetrudelt waren. Ana und Marie hatten am morgen zusammen ein Unterstützungszentrum für einen Räumungsort aufgebaut, während ich sinnlos durch die Gegend fuhr und mit dem Auto die Straßen verstopfte. Ana kochte Mittagsessen für alle und dann kam neuer Besuch, was mir völlig surreal erschien. Touris, hier im Krisenchaos?! Julia kam irgendwann und ging fast sofort wieder, um mit einer anderen Reporterin zusammen Infos für deren Videokanal zu sammeln: wo wurde welche Art von Hilfe gebraucht? Sie ist die Person, die ich in dieser Zeit am wenigsten schlafen sah. Nie mehr als sechs Stunden pro Nacht.
Um meinen Schlaf war es auch nicht so gut bestellt. Obwohl ich total erschöpft war, schaffte ich es nicht, die Gespräche im Wohnzimmer auszublenden und schlief gar nicht erst ein. In meinem Kopf ging es die ganze Zeit nur um das Erdbeben. Entweder schwirrte gerade eine Erinnerung darin herum oder ich versuchte, das Ausmaß zu realisieren, es mir wirklich vorzustellen, oder ich dachte verzweifelt über Möglichkeiten nach, zu helfen. Das Schuldgefühl der Überlebenden spielte auch mit hinein. Als sich dann alle anderen hingelegt hatten, gab ich auf und setzte mich an den Küchentisch, um mir alles von der Seele zu schreiben. Danach bekam ich endlich zwei Stunden Schlaf. Aber für mehr reichte es dann auch nicht, und noch dazu war der wenige Schlaf mit Albträumen durchsetzt.
„Ich kann es immer noch nicht fassen. Jedes mal, wenn ich darüber nachdenke und rede, fange ich an zu weinen. Und dann sehe ich Julia klaglos mit sechs Stunden Schlaf auskommen und sich den Rest der Zeit abrackern und frage mich, warum ich das nicht auch kann.“ (Tagebucheintrag vom 20.09.).
Am nächsten Tag merkte ich, dass es mir echt nicht gut ging. Jedesmal, wenn ich aß oder schlafen wollte, hatte ich Schuldgefühle, weil ich so etwas Alltägliches tat. Ich habe extra schnell geduscht, weil ich es pietätlos fand, mich in dieser Extremsituation um Hygiene zu scheren, während andere Leute alles verloren hatten. Alles, was nichts mit Erdbebenhilfe zu tun hatte, erschien mir sinnlos. Aber es war auch nicht gut, die ganze Zeit an das Erdbeben zu denken. Ich las im Internet Zeitungsartikel und schaute mir Bilder an, und hatte noch einmal nachträgliche Panik – ein Haus war in 1.5 Kilometer von Pro Ninos eingestürzt. Die Bilder riefen jedes mal Tränen hervor und die Infos über Tote taten auch nicht gut. Und mit wem darüber reden? Die Familie und Freunde zu Hause konnten es nicht wirklich verstehen, die hatten so etwas noch nie erlebt. Und die Leute hier waren alle viel zu sehr mit dem Helfen und Klarkommen beschäftigt.
Ich rief Alfredo an. Er sagte, ich solle zu ihm kommen, es wäre ruhiger außerhalb der Stadt. Ich dachte kurz darüber nach und sagte dann ja: die Straßen weiter zu verstopfen wäre kontraproduktiv und zur Zeit waren eh mehr als genug HelferInnen unterwegs.
Mit Alfredo und seinen Musiker-Freunden fuhren wir am Abend ins Zentrum, damit sie für die Kinder und die Helfenden musizieren konnten. Es kam erst nicht so richtig in Schwung, aber am Ende freuten sich die Leute in zwei Parks sehr über die Musik.
Ich erkundigte mich, ob noch Übersetzer gebraucht werden und schrieb mir eine Adresse auf. Dahin war ich dann ein paar Tage später unterwegs. Ich war noch nie so viel durch Mexiko Stadt gelaufen wie in dieser Woche, auch wenn inzwischen die Metro wieder funktionierte. Auf der Suche nach Arbeit als Übersetzerin werde ich wieder von hier nach da geschickt und ewig warten gelassen. Am Ende erbarmte sich jemand meiner und brachte mich zu einer Sammelstelle, die Leute für die Nacht suchte. Erst sagte ich, ich bleibe nur bis um acht, am Ende wurde daraus die ganze Nacht. Eine sehr schöne Nacht, trotz der Umstände. Auch hier kümmerten sich alle umeinander. Und die Leute vor Ort waren nett, auch wenn ich merkte, aus was für unterschiedlichen Kontexten sie alle kamen. Es wurde (leider) viel Aufhebens darum gemacht, dass ich als nicht-Mexikanerin half und ich war die Nacht lang der Liebling des Lagers … Und die Männer ließen mich nicht beim Bauen der Behelfszelte aus Planen helfen … Aber es war trotzdem toll. Spät in der Nacht wurde es dann ganz ruhig und es blieben nur noch wenige, um die Sachen zu bewachen. Wir haben abwechselnd das Regenwasser weggekehrt (es regnete in Strömen) und die Planen entwässert, damit das Zelt nicht einstürzt und dann geredet, Sachen organisiert, etwas gegessen … am Ende blieb sogar etwas Zeit zum Schlafen. Natürlich konnte ich wieder nicht schlafen. Am Morgen war ich ziemlich übernächtigt, und als um 11h endlich die Wechselschicht kam, ging ich erleichtert. Ich wollte nur noch in mein Bett.

Am 23.09. morgens wurden wir von den Sirenen aus dem Schlaf gerissen, Hose und Pulli schnappen und die 4 Etagen noch im Halbschlaf herunter rennen. Diesmal war jedoch in Mexiko Stadt nichts zu spüren: es war ein starkes Nachbeben in Oaxaca.

In Mexiko Stadt waren mindestens 192 Personen gestorben (http://www.eitb.eus/es/noticias/internacional/detalle/5105159/terremoto-mexico-19-septiembre-2017-noticias-sismo-dia-26/
nach anderen nummern 228 http://www.animalpolitico.com/2017/10/sismo-muertos-cdmx-morelos-puebla-edomex-guerrero/), darunter auch Kollegen von Marie. Mindestens 43 Gebäude waren eingestürzt, viel mehr ernsthaft beschädigt. Die eingestürzten Gebäude waren alt und neu, einstöckig und Hochhäuser (Multifamiliar Tlalpan 3000), eine Schule (Colegio Enrique Rebsamen), eine Fabrik. Weil die Sirenen nicht rechtzeitig losgingen, schafften viele es nicht rechtzeitig aus den Gebäuden. Bei dem Gebäude in der Straße Alvaro Obregon fing es irgendwann an, komisch zu riechen. Ohne Tetanus- Impfung durfte niemand mehr in das Gebäude.

Immer wieder gab es Gerüchte, dass die Regierung private Hilfspakete als ihre eigene Unterstützung ausgab. Ein Teil des Unterstützungsgelds aus Kanada verschwand angeblich. Ein Bürgermeister verkaufte von China gespendete Zelte für 1000 Pesos, anstatt sie kostenlos weiterzugeben. Anscheinend wurden manchen Leuten, deren Häuser zerstört wurden, nur Teilschaden anerkannt; andere Familien erschienen nicht auf den Listen oder erhielten ihre Bescheinigungen nicht (https://aristeguinoticias.com/2511/mexico/100-familias-damnificadas-en-jojutla-denuncian-apoyos-parciales/). Von unbewohnten – eingestürzten – Häusern wurde eine Gebühr für den Stromverbrauch verlang (thttps://aristeguinoticias.com/2711/multimedia/denuncian-cobros-excesivos-de-cfe-en-zonas-damnificadas-por-sismo-video/).

Ein paar Wochen später war ich mit ein paar anderen Freiwilligen in Ixctaltepec, Oaxaca, bei einer wunderbaren Familie. Dieser Ort wurde vom Erdbeben am 7.9. zu 90% zerstört.
Das starke Nachbeben am 23.hat dann den Häusern noch den Rest gegeben.
Jeden Tag waren ein paar kleine Nachbeben zu spüren, manchmal sogar zwischen der Stärke 4 und 5 auf der Richter-Skala. Dazu ertönte ein Donnern, das die Anwohner sehr nervös machte. Sie fragten sich, ob die Zone überhaupt noch bewohnbar sei und trauten sich nicht einmal mehr, in den noch intakten Häusern zu schlafen. Ein Glück, dass es so eine heiße Zone ist, denn die Bewohner, die es sich nicht leisten konnten, woanders hinzuziehen, wohnten allesamt unter Planen und draußen. Alle Möbel standen unter dem Vordach.
Wir Freiwilligen haben dort gezeltet und wurden von den Familien bekocht. Tagsüber haben wir die Ziegelsteine, die aus dem Abriss des Hauses übrig geblieben waren, vom Putz freigeklopft. Danach wurden sie gebürstet und sollten für den Wiederaufbau verwendet werden. Der Rest des Bauschutts wurde leider einfach in den Fluss gekippt. Des Weiteren haben wir mit Hilfe einiger Nachbarn eine Gemeinschaftsküche gebaut, damit sich ein Support-Netzwerk bildet. Die zugesagte Hilfe des Staats umfasst das Baumaterial für einen 16-quadratmer-Raum pro eingestürztem Haus. Das und das Einkommen der Familien reicht bei Weitem nicht, um ihnen ein Haus, wie sie es vorher hatten, zu ermöglichen. Deshalb, meinte Maru, müssten wir ihre Gemeinschaft stärken, damit sie sich gegenseitig aus der Krise helfen.
Die Familienmitglieder meinten, es sei toll, dass wir da seien – schon allein, weil die vielen Leute und die Aktivitäten sie aus der Schreckensstarre herausgeholt haben. Bei einem etwas stärkeren Nachbeben brachen fast alle in Tränen aus und wir mussten sie überzeugen, dass es sicher sei, wieder unter das Tordach zu gehen. Ich habe viele Leute gesehen, die einfach nur im Schock vor ihrem zerstörten Leben sitzen und sich nicht zu helfen wissen. Aktuelle Berichte besagen, dass auch drei Monate nach dem ersten Erdbeben noch eine Krisensituation herrscht (https://aristeguinoticias.com/0712/mexico/persiste-crisis-en-oaxaca-a-tres-meses-del-primer-sismo-video/).
Gerade deshalb hoffe ich, dass „unsere“ Familien es schaffen, sich etwas Neues aufzubauen und wieder einen Alltag zu finden, in dem die Angst vor Erdbeben weniger omnipräsent wird.

Aber was soll ich dazu sagen. Ich hab immer wieder Schreckmomente, wenn ein Haus wackelt, egal ob es das Wasser unter einem Pfahlbau ist, oder ob es die Straßenmaschinen direkt vor dem Fenster sind, die am Boden rütteln. Dann muss ich mich extrem konzentrieren, um nicht in in Angstschweiß auszubrechen. Nein, das kann nicht sein, die Erde bebt nicht. Es ist das Wasser, es sind die Autos. Das passiert nicht noch einmal. Hoffentlich.

Fotos: Ixctaltepec, Istmo, Oaxaca